Autismus darf nicht unsichtbar gemacht werden
Der heutige Welt-Autismus-Tag am 2. April hat das Thema „Not invisible“, zu Deutsch „Nicht unsichtbar“. Er hat das Ziel darauf aufmerksam zu machen, dass schätzungsweise 1% der deutschen Bevölkerung auf Grundlage ihres Autismus beeinträchtigt oder sogar behindert wird – so auch ich. Was sich zuerst nicht nach viel anhört, wird viel, wenn man es damit vergleicht, wie viele ins Westfalenstadion – Deutschlands größtes Fußballstadion – passen: Würden sich alle AutistInnen, die es momentan in Deutschland schätzungsweise gibt, hier treffen, könnten sie das Stadion 10x füllen.
Bei dieser großen Zahl sollte man nicht vergessen, dass jede autistische Person einzigartig und auf ihre Art wunderbar ist. So sehen einige, wie ich Details schneller als andere oder können ein tiefes Interesse bei bestimmten Themen entwickeln. Viele Menschen im Autismus-Spektrum sind auch ehrlicher als nicht-autistische, so genannte neurotypische Menschen.
Bei mir geht dies sogar soweit, dass ich nicht lügen kann. Das hört sich zu erst vielleicht gut an, bereitet mir manchmal aber auch Schwierigkeiten. Wenn ich lüge, merkt man es mir immer direkt an. Das ist wahrscheinlich so, weil das Lügen meinen eigenen Werten widerspricht, welche ich als Autistin viel wichtiger nehme als andere. Aber auch, weil die Wahrheit oft planbarer ist, als eine unüberschaubare Lüge. Warum das für mich wichtig ist, erzähle ich weiter unten.
Schwierigkeiten im Alltag
Doch der heutige Tag soll nicht nur darauf aufmerksam machen, wie viele Menschen im autistischen Spektrum es in Deutschland gibt, sondern auch mit welchen Schwierigkeiten diese zu kämpfen haben. Damit meine ich nicht nur, die Probleme durchs nicht lügen können. Viele AutistInnen sind durch alltägliche Aktivitäten, wie einkaufen, arbeiten oder Freunde treffen, schnell durch die vielen Reize überflutet. Sei es jetzt durch das viel zu starke Parfüm einer Mitschülerin oder das viel zu grelle Licht im Modegeschäft. All das sind Reize und es gibt noch viele mehr. Am bekanntesten sind wohl die auditiven Reize, also die Reize, die mit Tönen zu tun haben.
Als autistische Person kann ich mich vor vielen dieser Reize nur schwer oder gar nicht schützen. Das führt dann zu Reizüberflutungen. Sind diese zu stark, fühle ich mich oft überfordert. Noch vor einigen Jahren kam es dann zu nicht steuerbarer Aggressivität, bei der ich mitunter schon mal Schrauben aus der Eckbank durch die Klasse geworfen habe, weil meine MitschülerInnen mich nicht in Ruhe gelassen haben. Mittlerweile führt Reizüberflutung bei mir zum Glück kaum noch zu diesen Aggressionen, sondern vermehrt zum totalen Rückzug, bei dem ich zum Teil auch gar nicht mehr die Möglichkeit habe zu kommunizieren. Beide dieser Formen der Reizüberflutung können bei verschiedenen AutistInnen verschieden stark auftreten.
Halten die Reize über zu lange Zeit an, kann dies bei Menschen im Autismus-Spektrum auch zu Schlafstörungen oder Burnouts führen. Für Letzteres sind Menschen im Autismus-Spektrum anfälliger als neurotypische Menschen.
Alltag mit Autismus
Um zu viele Reize zu verhindern, fordere ich als autistische Person, dass Autismus- freundliche Angebote wie die Stille Stunde weiter ausgebaut und ausgeweitet werden. Diese ermöglichen es mir und anderen autistischen Personen mit weniger Reizen alltäglichen Aktivitäten wie dem Einkauf oder Kirmes- bzw. Schwimmbadbesuchen nachzugehen, in dem an den entsprechenden Orten das Licht gedimmt wird und alle Töne sowie Werbebildschirme ausgeschaltet werden.
Das Einkaufen ist oft schwer für mich. Habe ich Kopfhörer mit guter Musik auf, geht’s.
Doch, wenn ich diese nicht dabei habe, wird es an stressigen Tagen schon schwerer. Oft ist es das zu grelle Licht und das Piepen der Kassen, was mich reizt. An schlechten Tagen kommt dann auch noch das starke Parfüm dazu, dass die Frau vor mir an der Kasse aufgetragen hat.
Online habe ich mal einen schönen Vergleich gesehen: Als autistischer Mensch kommst du dir vor, wie ein Android-Handy zwischen iPhones. Ich finde, der Vergleich passt gut, denn zwischendurch habe auch ich das Gefühl, dass ich nicht verstehe, wie die anderen Menschen um mich herum funktionieren. Andersherum ist es jedoch auch oft so. Nur, wer weiß, dass ich Autismus habe und was das ist, kann versuchen mich zu verstehen.
Gender Health Gap auch bei Autismus
Mich stört es auch, dass es noch immer so ist, dass Frauen seltener diagnostiziert werden als Männer. Die Dunkelziffer bei weiblich-gelesenen Personen ist wahrscheinlich viel höher als bei männlich-gelesenen Personen. Das liegt auch daran, dass ein ruhiges Mädchen, das in ihrem Zimmer sitzt und liest, besser ins Geschlechterklischee passt als ein ruhiger Junge. Zudem wissen viele Personen auch nicht, was Autismus eigentlich ist und, dass er viele Facetten hat. Wahrscheinlich ist es auch so, dass der weibliche Autismus auch ein bisschen anders ist, als der männliche. Mit Sicherheit kann ich dies jedoch nicht sagen, weil durch die niedrige Diagnostizierung bei weiblichen Personen hier noch nicht ausreichend geforscht werden konnte. Zu dem kommt noch hinzu, dass jeder Autismus unterschiedlich ist.
Ich fordere deshalb, dass über Neurodiversität – zum Beispiel durch Psychologieunterricht in Schulen - noch besser aufgeklärt werden sollte und auch autistische Personen durch zum Beispiel eine Ausweitung der stillen Stunde auf weitere Lebensbereiche besser in die Gesellschaft inkludiert werden. So können sie die
Gesellschaft durch ihren Blick bereichern.
Autismus und Planbarkeit
Autismus betrifft übrigens nicht nur die Verarbeitung von Reizen, sondern auch die Planbarkeit und Kommunikation.
Eines meiner Problem ist auch, dass ich als Autistin gerne alles gut geplant haben möchte, damit es keine plötzlichen Überraschungen gibt. Ich habe nichts dagegen, wenn andere planen, ich bin nur leider dran gewöhnt, dass meistens vieles an mir hängen bleibt, zum Beispiel bei Gruppenarbeiten in der Schule (bei denen ich oft alles selber erarbeite und präsentiere). Dies liegt auch daran, dass ich durch mein „Anders-Sein“ häufiger ausgegrenzt werde. Andererseits kommt es auch dadurch, dass ich oft auch von mir aus alles direkt mache. Damit eben ein Plan da ist. Jedenfalls bin ich so schon daran gewöhnt alles selber zu planen und denke oft gar nicht mehr darüber nach, dass vielleicht auch andere etwas geplant haben. Wäre Autismus in der Gesellschaft bekannter, würde dies vielleicht auch dazu führen, dass autistischen Personen vielleicht häufiger Hilfe bei der Planung angeboten wird – zum Teil auch bei Situationen, die andere vielleicht als alltäglich hinnehmen. Und ich weiß, dies geht bei weitem nicht immer.
Hierbei sollte jedoch weiterhin beachtet werden, dass jeder und jede im Autismus-Spektrum unterschiedlich ist und einige vielleicht keine Unterstützung möchten. Dies sollte man dann auch respektieren und der Person die Hilfe nicht aufzwingen.
Mit plötzlichen Überraschungen meine ich übrigens Ereignisse, die ungeplant eintreten. Und obwohl ich mittlerweile gelernt habe mit ungeplant Ereignissen umzugehen, schlummert trotzdem noch eine gewisse Angst vor dem Ungewissen im Hinterkopf, im Unterbewusstsein, woraus natürlich auch Handlung resultiert. Früher habe ich bei plötzlichen Veränderungen – sei es nun das ausgefallene Schulfest, auf das ich mich gefreut habe, oder plötzlich angekündigte Girls/ Boys Days – angefangen zu weinen. Dies ist mittlerweile zum Glück nicht mehr ganz so oft so. Nur, wenn ich durch Reizüberflutung oder Schlafmangel gestresst bin, kann es immer noch dazu kommen, dass eine plötzliche Veränderung das Fass mit den Tränen zum Überlaufen bringt. Doch auch wegen dieser vergangenen Ereignisse, die mein Umfeld oft nicht verstanden hat und durch die ich als „komisch“ oder „nicht in diese Gesellschaft passend“ abgestempelt wurde, versuche ich vieles bis ins kleinste Detail zu planen, um es später in der entsprechenden Situation leichter zu haben. Und es erleichtert wirklich einiges für mich – auch, wenn ich manchmal mit dem Planen nicht hinterher komme.
Ich mache das also alles nicht, um andere zu nerven – mir ist bewusst, dass es vielleicht so rüber kommt -, und auch nicht, um anderen zu sagen, was ich gerne hätte – nein, wenn jemand Einwände hat respektiere ich diese natürlich – ich mache es als
Selbstschutz vor Überforderung in der entsprechenden Situation.
Schwierigkeiten bei der Kommunikation
Außerdem kommt noch dazu, dass ich als Autistin oft bei Gesprächen die Beziehungsebene aus dem Blick verliere und nur auf der Sachebene bleibe. Das heißt ich rede oder schreibe etwas, was aus meiner Sicht mir richtig erscheint, doch achte nicht darauf, wie es bei anderen vielleicht rüberkommt. Das sorgt dafür dass ich meine Sachen, die mir wichtig sind, oft stärker vertrete als andere es vielleicht tun würden.
Jedoch führt dies auch dazu, dass ich mir so mehr Feinde mache, weil ich einfach gar nicht darauf achte, wie das jetzt bei anderen Personen rüberkommen könnte, wenn ich dies und das sage. Nur wenn ich explizit darauf achte – wie jetzt gerade – wie etwas vielleicht rüberkommen könnte, nur dann achte ich auch auf die Beziehungsebene, was Gespräche zum Teil auch etwas erschwert.
Da ich auch nicht so schnell auf die Beziehungsebene achte, bin ich, wenn Feedback schlüssig formuliert ist, zum Teil kritikfähiger als andere es vielleicht sind. Das hat also sowohl seine Vor- als auch seine Nachteile.
Hilfe für Menschen mit leichtem Autismus
Es unterstützt mich oft schon genug, wenn man versucht mich zu verstehen, auf der Grundlage von dem was ich anderen geben kann. Deshalb fordere ich auch bessere Aufklärung in Schulen und keine Stigmatisierung. Zu wenig Aufklärung und Stigmatisierung führt dazu, dass autistische Personen oft aus dem Blick geraten und so benachteiligt werden. Da ich zum Glück nur leichten Autismus habe, komme ich sonst eigentlich auch ganz gut selber klar. Es sei denn, jemand nimmt mich nicht so hin wie ich bin und würde mich gerne verändern. Dann werde ich schon mal wütend.
Dieser Text ist auch hauptsächlich dafür da, damit andere verstehen, was Autismus ist, und warum Menschen im Autismus-Spektrum manchmal so reagieren oder sich so Benehmen, wie es in dem Moment passiert. Was manchmal vielleicht unhöflich aussieht, machen viele oft nicht, weil sie unhöflich sein möchten, sondern weil sie es einfach in dem Moment nicht anders wissen bzw. auf einer anderen Gesprächsebene unterwegs sind oder um sich selbst zu schützen.
Ein Kommentar zum Weltautismustag von Raja (17)